Ruhestand

„Ich glaub`, ich hab` Altersdepressionen“ – Eva läßt die Zeitung sinken. Sie überlegt, ob sie sich verhört hat. Ihr meistens froh gestimmter Mann überrascht sie mit einer solchen Äußerung. Vor einem halben Jahr hatte Rolfs Ruhestand begonnen. Bis jetzt fiel ihm die Umstellung schwer.

Stets war er voll in seinem Beruf aufgegangen, immer für die Firma dagewesen. Er war anerkannt und ein wichtiges Betriebsmitglied. Mitarbeiter und Chefs schätzten seine Erfahrungen, seine Fähigkeiten, Loyalität und sozialen Kompetenzen. Das alles wurde nun plötzlich im Berufsleben nicht mehr gebraucht. Rolf mußte Abschied nehmen von seiner Firma und seinen Gewohnheiten. Sein neues Leben hatte begonnen, nur angekommen war er darin noch nicht. Die Zeit des Abschiedes nach den vielen Berufsjahren dauerte noch an. Es war ein langwieriger Prozess, endlich in einem neuen Lebensabschnitt anzukommen.

Was aber sollte Rolf mit diesem Lebensabschnitt anfangen? Darüber kam er jetzt mit seiner Frau ins Gespräch. Er hatte sich nie Gedanken gemacht, ob er nun endlich seine Hobbys pflegen wollte. Oder ob er sich als Freiwilliger in einem ganz anderen Bereich engagieren wollte – ein Ehrenamt übernehmen, seine Fähigkeiten und sein Können anderen zur Verfügung stellen, die Unterstützung und Hilfe brauchen. Oder sollte es doch lieber ein lang gehegter Traum sein, der nun umgesetzt werden konnte – Reiten wollte er immer schon lernen. Im Gespräch mit Eva fand Rolf sehr viele Möglichkeiten und neue Chancen heraus. Und schon war er wieder aktiv und voller Tatendrang. Ruhestand gab es für ihn jetzt nur noch in Bezug auf sein Berufsleben.


Von Ulrike Elbers, Familientherapeutin/Supervisorin – Wuppertal
Veröffentlicht in Westdeutsche Zeitung, WZ, Kolumne: Beziehungen am Samstag 24. Oktober 2009